Sexualtherapie

Das Sexocorporel-Konzept

Sexocorporel: Beschreibung

Das Sexocorporel-Konzept basiert auf dem Begriff der »sexuellen Gesundheit« und bezieht sich auf diesbezügliche Publikationen der Weltgesundheitsorganisation (»Sexual Health«; vgl. dazu auch Briken, 2013). Dabei wird zwischen men­taler und sexueller Gesundheit unterschieden. Sexuelle Gesundheit umfasse die Integration körperlicher, emotionaler, intellektueller und sozialer Aspekte des Menschen inkl. Kommunikation und Liebe. Die menschliche Sexualentwicklung, auch »Sexualisierungsprozess« genannt, dauere von der frühesten Kindheit bis ins Alter und umfasse eine Vielzahl persönlicher Lernschritte, die Hirnreifung spiele ebenso eine Rolle wie Umwelteinflüsse. Nur das biologische Geschlecht sei mit der Zeugung festgelegt. Sexocorporel dient nach Bischof (2012) in erster Linie der Förderung des sexuellen Lusterlebens. Jeder Mensch habe Grenzen in seiner Sexualentwicklung; dies sei nicht im Sinne einer Pathologie zu interpretieren, auch sollten keine neuen Leistungsnormen erzeugt werden. Ziel sei, bestehende Fähigkeiten und Ressourcen zu erweitern; es gehe nicht um einen defizitären Blick auf Störungen und Dysfunktionen.

Das Konzept umfasst vier Komponenten, die bei der Ausübung von Sexualität miteinander zusammenspielen: Physiologie, »Sexodynamik«, Kognition und Beziehung. Die physiologische Komponente bezieht sich auf die sogenannte Erregungs­funktion, die erlernte Fähigkeit zur Nutzung angeborener Reflexe (Erregung, Orgasmus) durch Bewegung, Rhythmus und Muskeltonus. Dabei werden fünf Erregungsmodi unterschieden: (1) Der »archaische« Erregungsmodus wirke durch eine eher tiefe Stimulation propriozeptiver Rezeptoren in der Genitalgegend, z. B. durch Druck. (2) Beim »mechanischen« Erregungsmodus seien mechanisch-rhythmische Bewegungen, wie z. B. Reibung, mit eher oberflächlichen Berührungen vorrangig. (3) Der »archaisch-mechanische« Erregungsmodus stelle eine Kombination der ersten beiden Modi dar, wirke also gleichzeitig oberflächlich und tief, mit Druck und mit Reibung. (4) Beim »ondulierenden« Erregungsmodus seien die Bewegungen im ganzen Körper fließend, das Spiel mit Rhythmen und Bewegungen sei abwechslungsreich. (5) Beim »wellenförmigen« Erregungsmodus würden Tiefenrezeptoren über eine »doppelte Schaukel«, d. h. über gleichzeitige Bewegungen des Beckens sowie von Brust, Schultern und Kopf stimuliert, die Bauchatmung sei ebenfalls wichtig. Es gebe Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der bevorzugten Erregungsmodi.

Die sexodynamische Komponente

Die sexodynamische Komponente setzt sich aus den Wahrnehmungen, Emotionen, Symbolen, Phantasien und Vorstellungen zusammen, die in direktem Zusammenhang mit Sexualität stehen. Dazu zählen sexuelle Lust als die Fähigkeit, sexuelle Erregung zu genießen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zum eigenen biolo­gischen Geschlecht, sexuelle Selbstsicherheit und Begehren. Als kognitive Kom­ponente der Sexualität wird die Summe aller individuell erworbenen sexuellen Kenntnisse, Werte und Normen betrachtet. Diese werden durch das soziale Umfeld vermittelt und können sich fördernd oder hemmend auf die Sexualität auswirken. Die Beziehungskomponente bezieht sich auf die Fähigkeiten, sich zu verlieben, Intimität zu genießen, zu lieben, sich zu binden, zu verführen und zu kommunizieren (eigene sexuelle Bedürfnisse, Wünsche, Vorstellungen, Grenzen und Ängste mitzuteilen).
In dem Konzept wird der physiologischen Komponente, vor allem der Erre­gungsfunktion, besondere Bedeutung zugeschrieben, die anderen drei Kompo­nenten scheinen eher nachrangig zu sein.

Sexocorporel zielt auf die Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen (z. B. Ejaculatio praecox, Anorgasmie, Erektionsstörung), von sexueller Lustlosigkeit und sogar von Geschlechtsidentitätsstörungen. Sexocorporel kritisiert die »her­kömmlichen« Sexualtherapien, weil bei diesen die Störungen der Lernschritte bei der Entwicklung der Erregungsfunktion (als »direkte Kausalitäten« der sexuellen Probleme bezeichnet) nur unzureichend evaluiert würden. Stattdessen würde man sich lediglich auf nachrangige, »indirekte Kausalitäten« beziehen, womit Beziehungsprobleme, psychische Konflikte, belastende Kindheitserfahrungen und sexuelle Traumatisierungen gemeint sind, die dann in einer hypothetischen Kon­struktion mit der sexuellen Störung fälschlicherweise in einen direkten Zusammenhang gebracht werden. Dies wird als »Psychopathologisierung« psychisch gesunder, aber sexuell gestörter Menschen bezeichnet. Obwohl viele psychisch gestörte Menschen zugleich auch sexuelle Störungen aufwiesen, seien die meis­ten Menschen mit sexuellen Problemen psychisch gesund.

Sexocorporel bei Vaginismus

Es wird zwischen zwei Vaginismus-Typen unterschieden. Bei Typ I (phobischer Vaginismus) handele es sich um eine konditionierte Angst, mit der auf den Penis oder andere Objekte reagiert wird, die in die Vagina eingeführt werden sollen. Es komme zu reflexhaften muskulären Anspannungen, insbesondere im Beckenboden, wann immer sich etwas der Vagina nähert. Bei Vaginismus des Typs II sei demgegenüber die Ursache nicht Furcht vor der Penetration, sondern vor einer möglichen Schwangerschaft. Die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, löse Ängste bei der Frau aus, weil sie selbst »im Kern noch ein Kind« sei. Es komme beim Typ II nicht zu einer generalisierten Krampfreaktion; beim Sex könne die Vagina durch Finger, Zunge oder Gegen­stände einbezogen werden, auch Analverkehr sei möglich, weil dabei keine Gefahr bestehe, schwanger zu werden.

Als Beispiel für den Typ II werden Frauen mit »Lolita-Charme« beschrieben: »[Mit] geöffnetem Mund, wanderndem Blick, [. . .] verführerisch und attrak­tiv. Ähnlich wie manche aufreizend bekleidete Teenager sind sie sich der zweideutigen Botschaften, die sie aussenden, nicht bewusst und erleben das männliche Echo darauf teils als unerwünscht. In der Körpersprache fällt oft auf, dass der Unterleib unbewohnt erscheint: die Frau sitzt mit mädchenhaft weit geöffneten Beinen da und gewährt Einblick unter ihren kurzen Rock, als ob sie sich gar nicht bewusst wäre, dass es da etwas zu sehen gibt. Ganz anders als die Frau mit phobischem Vaginismus kommt es dort nicht zu unwillkürlichen Verschluss- und Schutzbewegungen – es ist, als ob da gar nichts wäre, was Schutz brauchte« (Bischof, 2012, S. 35).

Vaginismus Behandlung

Die Vaginismusbehandlung mit Sexocorporel könne auf verschiedene Weise durchgeführt werden. Eine massierte Therapie mit mehreren Sitzungen täglich könne in zwei bis drei Wochen zum Erfolg führen. Zumeist würden die Sitzungen in größeren Abständen durchgeführt. Der primäre Vaginismus lasse sich in 10 bis 15 Sitzungen behandeln, beim sekundären Vaginismus sei mit längeren Therapien zu rechnen. Bei den Behandlungszielen werden verschiedene Stufen unterschie­den, je nach Anliegen der Frau: vaginale Funktionalität (»Fähigkeit der Patientin, etwas in ihrer Vagina aufzunehmen; ausreichend, um schwanger zu werden«), lustvolles Erleben der Penetration und lustvolles Erleben des Partners. In den Sit­zungen werde grundlegendes Wissen vermittelt, z. B. über Bau und Funktion der Geschlechtsorgane. Außerdem werde die Patientin zur Erkundung ihrer Vagina angehalten. Des Weiteren würden Übungen beschrieben und demonstriert, die von der Patientin zu Hause durchzuführen sind. Sie solle zunächst allein üben, später könne der Partner einbezogen werden. Die einzelnen Therapieschritte und deren Reihenfolge seien nicht festgelegt. Häufig werde mit Übungen zur Wahr­nehmung von Spannungen der Beckenbodenmuskulatur begonnen. Es werde zur nächsten Übung übergegangen, wenn die Patientin die letzte Übung beherrscht.

Sexocorporel Übungen

Die in den Übungen gemachten Erfahrungen würden in den Sitzungen im Detail exploriert. In den Übungen gehe es neben der Wahrnehmung der Beckenbodenmuskulatur auch um Entspannung und Bauchatmung, Beckenbewegungen (»Beckenschaukel«), das Kennenlernen und Berühren der äußeren Genitalien und der Vagina, das Erzeugen von sexueller Erregung, die Gewöhnung der Vagina an das Einführen von Fingern und oder Vaginalstäben (o. ä.). Später könne der Penis des Partners eingeführt werden, zunächst von der Patientin selbst, dann vom Partner.

Bei Vaginismus des Typs II komme es darauf an, die Weiblichkeit und Eigen­ständigkeit der Patientin zu »konstruieren«. Eine zu enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter scheint für Bischof ein zentraler ätiologischer Faktor bei Vagi­nismus vom Typ II zu sein, also müsse eine innere Distanz zur Mutter hergestellt werden.

Sexocorporel bei Erektionsstörungen (Gehrig, 2010)

Es wird angenommen, dass der bei Männern am häufigsten vorkommende »mechanische« Erregungsmodus ein Risiko für die Entstehung einer Erektionsstörung darstellt. Diese Männer funktionieren sexuell demnach über viele Jahre »automatisch« gut. Jedoch komme es nicht zu weiteren »genitalen Lernschritten«, sie blieben im Modus des »Wich­sens« und »Rubbelns« und hätten keine Möglichkeit, ihre Erregungskurve z. B. durch ein Spiel mit Muskelspannung, Bewegung, Rhythmen sowie durch die Atmung zu beeinflussen. Sei die Erektion (etwa mit zunehmendem Alter) nicht mehr so stark, so komme es zu Verunsicherung, ängstlicher Selbstbeobachtung, Leistungsdruck und Versagensangst. Dabei geht es also auch um die Performance Anxiety, die schon Masters & Johnson (1970) beschrieben haben.

Im Sexocorporel-Ansatz soll bei diesen Männern eine Erotisierung erreicht werden; damit ist die Fähigkeit gemeint, die sexuelle Erregung über ein breites Spektrum von Erre­gungsquellen und körperlichen Aktivitäten (ondulierender und wellenförmiger Erregungsmodus) mit Wahrnehmungen, Gefühlen, Emotionen und Phantasien zu verbinden. Beim praktischen Vorgehen wird zunächst wieder Hintergrund­wissen vermittelt. Dann werden Übungen verwendet, deren Ziel die Verbesse­rung der Wahrnehmung des eigenen Genitals ist (»sensorische Rehabilitation«). Im weiteren Verlauf soll sich der Patient den wellenförmigen Erregungsmodus aneignen. Schließlich soll die Wahrnehmung der eigenen Männlichkeit gesteigert werden (z. B. Ausdruck, Haltung, Gang). Bei den Übungen macht der Patient u. a. kreisende oder schaukelnde Beckenbewegungen (»Beckenschaukel«). Dabei wird auf bewusste Bauchatmung beachtet. Gehrig (2010) bezieht die Partnerin deutlich in die Therapie ein. Es finden offenbar regelmäßig Paarsitzungen statt, und es werden modifizierte Sensate-Focus-Übungen nach Masters & Johnson (1970) eingesetzt.

Das praktische Vorgehen bei einer Sexocorporel-Behandlung scheint somit sehr heterogen zu sein. Viele Techniken werden in sehr ähnlicher Weise in ande­ren Therapiekonzepten verwendet (u. a. Vaginalstäbe). Das Besondere beim Sexo­corporel liegt in einer stark körpertherapeutischen Ausrichtung auf der Grund­lage der Erregungsmodi sowie in der Betrachtung von individuellen Defiziten bei der Entwicklung der Erregungsmodi, während die kausale Bedeutung psychi­scher oder paardynamischer Faktoren als nachrangig eingestuft wird. Hauptziel der Behandlung ist die Vermittlung von Erregungsmodi, die geeignet sind, das sexuelle Symptom zu überwinden.

Diskussion

Theoretische Grundlagen

Kernstück und Alleinstellungsmerkmal des Sexocorporel- Ansatzes sind die postulierten Erregungsmodi. Allerdings gibt es offenbar keine wissenschaftlichen Nachweise für deren Existenz i. S. abgrenzbarer psychophy­siologischer Einheiten. Die empirische Prüfung von Phasenmodellen, Typologien etc. erfordert aufwendige und methodisch komplexe Studien, wie man z. B. aus der Bindungsforschung (Bindungsstile; vgl. Grossmann & Grossmann, 2004) oder aus der Persönlichkeitsforschung (»Big Five«; vgl. Asendorpf & Neyer, 2012) weiß; selbst hinsichtlich der Phasen der sexuellen Reaktion gibt es, angefangen bei dem Vier-Phasen-Modell von Masters & Jonson (1966), eine kontroverse Diskus­sion, die noch heute nicht abgeschlossen ist (Basson, 2002).

Empirische Evaluation

Auch, wenn die Existenz der Erregungsmodi bislang nicht belegt wurde, sind die Vertreterinnen und Vertreter von Sexocorporel erkennbar um empirische Wirksamkeitsnachweise ihrer Methode bemüht (z. B. Blais et al., 2006). In einer Online-Befragung bei 1407 Frauen im Alter von 16 bis 73 Jahren fand Bischof-Campbell (2012) korrelative Zusammenhänge zwischen den Erre­gungsmodi und diversen Aspekten des sexuellen Erlebens. Wie das Sexocorporel- Konzept es nahelegt, waren die »komplexeren« Erregungsmodi (ondulierend oder wellenförmig) mit stärkerem sexuellen Genuss assoziiert als die »primitiveren« Erregungsmodi (archaisch, mechanisch). Ein Problem dieser Studie ist, dass die Erregungsmodi ebenfalls mit Online-Fragen identifiziert wurden; die Validität dieser Methode dürfte nicht allzu hoch sein.

Auch die Wirksamkeit von Sexocorporel-Behandlungen wurde bereits unter­sucht. De Carufel & Trudel (2006) behandelten Männer mit vorzeitigem Samenerguss und verglichen die Effekte von Sexocorporel mit Methoden der klassischen Sexualtherapie (v. a. Squeeze- bzw. Stop-Start-Technik). Beide Methoden waren gleichermaßen wirksam, was aber auch bedeutet, dass Sexocorporel nicht überlegen war.

Interessant wären auch Studien, in denen Sexocorporel z. B. mit dem Hambur­ger Modell oder der Systemischen Sexualtherapie verglichen wird. Noch naheliegender wären empirische Vergleiche mit bestimmten Formen der Physiothera­pie (z. B. Beckenbodentraining bei Vaginismus; Amherd, 2006; Carrière, 2012) und mit den bereits erwähnten Kegel-Übungen, die fester Bestandteil von Sexual­therapien sind (z. B. Hauch, 2013). Dabei wäre zu klären, ob nicht auch die her­kömmlichen sexual- oder physiotherapeutischen Behandlungskonzepte zu Ver­änderungen der Erregungsmodi führen. Individualisierter Ansatz. Bei Sexocorporel wird das Geschehen in der Paarbezie­hung zwar nicht völlig ignoriert, jedoch bestenfalls als nachrangig für die Entste­hung oder Aufrechterhaltung von sexuellen Problemen betrachtet (»indirekte Kausalitäten«).

Individuellen psychosexuelle Ent­wicklung

Die besondere Beachtung der individuellen psychosexuellen Ent­wicklung ist eine Stärke des Sexocorporel-Ansatzes. Deswegen richtet sich Sexocorporel auch vorwiegend an einzelne Patienten, wie z. B. bei der Vaginis­mus-Behandlung (Bischof, 2010, s. o.): Der Partner ist hier gewissermaßen ein Assistent, der seinen Penis zu Verfügung stellt. Es ist jedoch gerade bei Partner­schaften von Frauen mit Vaginismus bekannt, wie sehr die gesamte Beziehungs­dynamik in einer bestimmten Weise geprägt ist. Frauen mit Vaginismus neigen dazu, jede »Bedrohung« durch ihren Partner auszuschließen, was bereits mit der Partnerwahl beginnt. Diese Männer wirken häufig jungenhaft und wenig maskulin und haben oft selbst sexuelle Probleme. Klein et al. (2015) fanden in einer Analyse klinischer Falldokumentationen:

»Vielmehr scheint die Partnerwahl von Bedeutung zu sein, wenn man die individuellen biographischen Erfahrungen der männlichen Partner betrach­tet. Daher scheinen bei Paaren mit Vaginismus beide Partner den vaginalen Geschlechtsverkehr zu vermeiden« (ebd., S. 6, Ü. d. A.).

Auch Bischof (2010) berichtet, dass die Partner von Frauen mit Vaginismus oft »hypophallisch« sind; konsequenterweise empfiehlt sie statt einer gemeinsamen Paarbehandlung aber eine parallele Sexocorporel-Einzeltherapie. Das hat Nach­teile: Wenn z. B. der Mann einer Frau mit Vaginismus auf eine versteckte Weise profitiert, weil er dadurch vor etwaigen Ängsten vor seiner eigenen Maskulinität geschützt wird, und wenn die Frau von der »Hypophallie« ihres Partners profi­tiert, weil dadurch das Risiko eines Coitus-Versuches ausgeschlossen wird, wer­den beide unterschwellig die Tendenz haben, an den Symptomen festzuhalten. Diese aufrechterhaltenden Interaktionsmechanismen können besser mit einer Paartherapie erreicht werden.

Das praktische Vorgehen bei Sexocorporel scheint ausgesprochen eklektizis­tisch zu sein; es werden viele bewährte Techniken anderer sexualtherapeutischer Konzepte übernommen (z. B. die Verwendung von Vaginalstäben bei Vaginis­musbehandlungen). Es werden sogar Sensate-Focus-Übungen durchgeführt, wie das Beispiel von Gehrig (2010) bei der Behandlung von Erektionsstörungen zeigt. Dabei erscheint uns schwer vorstellbar, wie eine derartig auf das Paarerleben ausgerichtete Technik wie der Sensate Focus eigentlich in ein Konzept integrier­bar ist, das weitgehend einem individualisierten Störungsverständnis folgt. Die eklektizistische Kombination verschiedener Konzepte ist natürlich nicht verbo­ten, ist vielmehr sogar weit verbreitet und oft auch sinnvoll. Es ist dabei allerdings kaum möglich, zu beurteilen, welchen spezifischen Beitrag Sexocorporel an den Therapieerfolgen hat. Sofern einer sexuellen Störung aber paardynamische Kon­flikte zugrunde liegen, bei denen das Symptom eine regulierende Funktion in der Partnerschaft bekommen hat, dürfte Sexocorporel schnell an Grenzen stoßen. Driemeyer & Signerski-Krieger (2013) bezweifeln sogar, dass Sexocorporel über­haupt als Psychotherapie zu betrachten ist.

Risiken des Sexocorporel-Ansatzes

  1. Durch die Einordnung intrapsychischer oder interpersonaler Probleme als nach­rangig in der Ätiologie sexueller Funktions- und Luststörungen steht Sexocor­porel in einer eigenartigen Nähe zu den Marketingstrategien der Pharmaindustrie. Dazu passt, das die hier zitierten Beiträge von Bischof (2010) und Gehrig (2010) in einem von der Pfizer AG finanzierten Buch erschienen. Letztgenannter Autor empfiehlt in seinem Beitrag, dass man Patienten mit Erektionsstörungen nie (!) mit der Erklärung beunruhigen soll, das Problem sei »psychisch«, und dass man bei der Verschreibung von PDE-5-Hemmern stets die kontinuierliche Medikation bevorzugen sollte. Wer Geld von der Pharmaindustrie annimmt, befindet sich eben schnell in einem Interessenkonflikt (vgl. Maß, 2010).
  2. Nach Bischof (2012) basiert die Definition sexueller Gesundheit im Rahmen des Sexocorporel-Ansatzes auf der Fähigkeit, sexuelle Lust zu empfinden: »Sexocorporel schlägt eine Definition der sexuellen Gesundheit vor, die auf der Fähigkeit basiert, sexuelle Lust zu erleben« (ebd., S. 59, Ü. d. A.). Sexocorporel tut sich schwer mit Begriffen wie »Krankheit« oder »Störung«, die als Ausdruck von unberechtigter Pathologisierung und fehlender Wertschät­zung gegenüber der Einzigartigkeit des Individuums gelten, es wird stattdessen von den Grenzen des sexuellen Lernprozesses gesprochen. Durch die Verwendung des Begriffes der »sexuellen Gesundheit« kehrt die Pathologisierung jedoch postwendend in den Diskurs zurück. Aus dem o. g. Zitat folgt, dass nach Sexocorporel nur der sexuell gesund ist, der sexuelle Lust empfinden kann. Da der Begriff Gesundheit seinen Sinn nur als Gegensatz von Krankheit erhält, folgt daraus, dass Sexocorporel alle, die keine sexuelle Lust empfinden können, indirekt als sexuell gestört betrachtet. So versteckt sich in dem Zitat eine prob­lematische Aussage.
  3. Die Auffassung von Sexualität bzw. sexueller Gesundheit im Sexocorporel- Konzept passt – ähnlich wie z. B. der Ansatz von David Schnarch – zu dem Begriff der »sexuellen Fitness« (Baumann, 1998): Die sexuelle Revolution in den westlichen Gesellschaften zielte auf die Überwindung sexueller Restriktionen und sollte eine sexuelle Liberalisierung herbeiführen, was sicher auch gesche­hen ist. Jedoch bildeten sich in der Folge neue Normen heraus, die zu einer neuen Form von normativem Druck geführt haben. Wer heute keinen lustvollen Sex hat, gerät in Rechtfertigungsdruck (vgl. Kapitel 4).

»Es sind die körperlich lustvollen, aufregenden und prickelnden Empfindun­gen, die eine fitte Person sucht – und der Erregungssammler ist der Körper und zugleich der Besitzer des Körpers, Wächter, Trainer und Direktor. Diese beiden Rollen sind prinzipiell inkompatibel. Die erste erfordert vollkom­mene Versunkenheit und Selbstaufgabe, die zweite Distanzierung und nüch­terne Beurteilung. Beide Anforderungen miteinander zu versöhnen, ist viel verlangt, wenn nicht unmöglich« (Baumann, 1998, S. 23 f.).

Die normativen Zwänge, denen Männer und Frauen in einer sexualliberalen Gesellschaft ausgesetzt sind, können zu dem Phänomen führen, das Apfelbaum (1988) als »Response Anxiety« bezeichnet hat – ein Effekt, der insbesondere die Behandlung von sexueller Lustlosigkeit erschweren könnte. Die Auseinander­setzung mit diesem Thema fehlt im Sexocorporel-Ansatz bislang, obwohl es gerade für Sexocorporel relevant sein dürfte.

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